jb Frederic Laloux hat mit seinem Buch „Reinventing Organizations“ den Nerv der Zeit getroffen und viele Menschen auf der ganzen Welt zum Nachdenken über Organisationsformen der Zukunft angeregt. Seine hoffnungsvolle Botschaft: Wir können zutiefst wirkungsvollere, seelenvollere und sinnvollere Wege finden, wie ein Unternehmen organisiert werden kann.
Laloux‘ Buch macht Hoffnung, weil er seine Ausführungen auf einer dreijährigen Recherche beruhen, in der er ungefähr 50 Organisationen, die bereits nach den neuen Paradigmen und Methoden arbeiten, untersucht hat. Diese Organisationen – er nennt sie evolutionär – existieren also bereits! Und wir können von ihnen lernen.
Diese neue Sichtweise legt das Bild einer Organisation als lebendiges System oder lebender Organismus nahe. Die Natur und das Leben selbst dient dabei als Vorbild. Die Natur ist nicht hierarchisch organisiert, sondern es gibt ständig und überall Veränderungen. Darin zeigt sich der selbstorganisierende Impuls, der jedem Lebewesen innewohnt. Wie könnte sich Arbeit anfühlen, wenn wir Organisationen als Lebewesen behandeln und sich in ihnen die evolutionäre Kraft des Lebens entfalten kann?
Drei Durchbrüche: Selbstführung, Ganzheit und evolutionärer Sinn
Weg von der Hierarchie hin zur Selbstorganisation oder Selbstführung ist der erste grosse Durchbruch, die das Management, wie wir es bisher kannten, verändern. Und hier haben die Pionier-Organisationen herausgefunden: Der Beratungsprozess ist die entscheidende Neuerung, die die Selbstführung erst ermöglicht. Das Prinzip besteht darin, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter jede Entscheidung treffen kann. Dazu gehört auch das Ausgeben von Unternehmensgeldern. Aber zuerst muss sie oder er alle Kollegen um Rat fragen, 1) die sich in dem Thema auskennen und 2) die von dieser Entscheidung betroffen sind und mit ihr leben müssen. Die Verantwortung für die Entscheidung bleibt bei der initiativen Person. Vereinfacht gesagt heisst das: Je grösser die Entscheidung, desto mehr Leute müssen um Rat gefragt werden.
Der zweite Durchbruch bedeutet, die Arbeit als ein Ort zu sehen, an dem wir Ganzheit finden können. Wenn sich heute so viele Arbeitsplätze leblos anfühlen, dann liegt der Grund vielleicht darin, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Lebens mit in die Arbeit bringen. Wir tragen eine professionelle Maske. Alles, was uns verletzlich macht, unsere emotionale und gar spirituelle Seite zeigen wir in herkömmlichen Organisationen nicht, jedenfalls nicht offiziell. Damit wir uns ganz zeigen können, brauchen wir eine Umgebung, in der wir uns sicher und wertgeschätzt fühlen. So haben evolutionäre Organisationen sorgfältig ausgearbeitete Praktiken eingeführt, die die Mitarbeitenden darin unterstützen, sich selbst sein zu können (z.B. Raum für Reflexion, Austausch und Begegnung). Auch gemeinsam ausformulierte Grundsätze helfen, einen sicheren Boden für einen vertrauensvollen Umgang zu schaffen.
Der dritte Durchbruch ist die Vorstellung, dass Organisationen einen evolutionären Sinn haben und wir auf diesen Sinn hören können. Das bedeutet in der Praxis, von einem Modus des Vorhersagens, Planens und Kontrollierens zu einem Modus des Lauschens und Wahrnehmens zu wechseln. Um dies besser verstehen zu können, hilft es, zum Bild der Organisation als lebendiges Wesen zurückzukommen. Dieses hat seine eigene Richtung, seinen eigenen Sinn, den es zum Ausdruck bringen will. Und jeder Mitarbeitende kann diesen wahrnehmen und sich von ihm leiten lassen. Diese Vorstellung ist wohl die ungewöhnlichste und gewöhnungsbedürftigste der von Laloux untersuchten Neuerungen. Mit dem Übergang zu einer evolutionären Weltsicht lernen die Menschen, mit den Ängsten des Egos umzugehen. Dadurch wird es möglich auch in Organisationen tiefere Fragen zu stellen: Was ist meine Berufung? Welche Ziele lohnen sich wirklich?
Das lebendige Wesen momo&ronja
Wenn ich auf unsere noch junge Entstehungsgeschichte zurückblicke, finde ich es sehr passend, unsere Organisation momo&ronja als lebendigen Organismus zu bezeichnen. Die Entscheidung, uns auf dieses gemeinsame Abenteuer einzulassen, fiel am 14. November 2016. Es war eine spezielle Vollmondnacht, der erdnaheste Super-Mond seit 1948. Unsere Kolleginnen hatten zu einem Prayer Circle für Standing Rock eingeladen. Kim Jana und ich trafen uns bei mir zu Hause in Bettlach zur gemeinsamen Meditation.
Schon im Vorfeld hatten wir uns über unsere beruflichen Situationen unterhalten: Kim Jana war seit längerem auf Jobsuche mit einem Abschluss als Umweltingenieurin in der Tasche. Und ich war mit einer zu Ende gehenden Teilzeitanstellung bei der Integralen Politik und mit drei Kindern, die langsam erwachsen werden, an einer wichtigen Weichenstellung für meine berufliche Zukunft angelangt. Wir beide hatten uns seit längerem nebenberuflich in diversen Projekten für den Wandel, für mehr Bewusstsein und eine enkeltaugliche Zukunft eingesetzt. War es möglich, unsere vielfältigen Erfahrungen in einem Gefäss zu vereinen?
„Das, was zwischen uns ist“
In der Meditation kam der klare Impuls: wir stehen auf mit den Ureinwohner_innen von Standing Rock und wagen den Schritt, unser Engagement für eine bessere Welt zu unserem Hauptberuf zu machen. Noch am gleichen Abend kam die Idee für den Namen: momo&ronja. Wir wollten spielerisch und in Freude in den Fussstapfen dieser mutigen Heldinnen unserer Kindheit wandeln. Es fühlte sich an, als ob dieser Name „im Raum zwischen uns“ aufgetaucht war.
In Stille verbunden mit dem Mond und mit unseren Kolleginnen im Gebet für Standing Rock, wurde momo&ronja geboren. Es tut gut, mir diesen kraftvollen Moment in Erinnerung zu rufen, bei dem einfach alles zusammengepasst hat. Der Name momo&ronja trägt die Energie dieses magischen Momentes der Verbundenheit mit allem in sich und erinnert uns daran. Mein guter Vorsatz: in Momenten des Zweifels diesen Blogeintrag wieder zu lesen.
Die drei Durchbrüche bei momo&ronja
Wir gehen mit momo&ronja neue Wege und versuchen bei der Organisation unserer Arbeit, die Erkenntnisse von Laloux in der Praxis anzuwenden. Was können wir aus unseren Erfahrungen zu den drei Durchbrüchen sagen?
Zum ersten Durchbruch: Mit Selbstführung und Selbstorganisation haben Kim Jana und ich im Rahmen der Open Space Bewegung schon länger experimentiert. Bei momo&ronja ist dieses Prinzip einfach umzusetzen, weil wir allermeistens zu zweit arbeiten. Grösser wird die Herausforderung, wenn wir die Anwendung in Projekten betrachten. Dies ist ein grösseres Thema und verdient einen eigenen Blogeintrag.
Zum zweiten Durchbruch: In meiner Tätigkeit für die Integrale (=ganzheitliche) Politik hatte ich auch konzeptuell mit Ganzheit zu tun. Wie kann man Ganzheit fassbar machen? Cécile Cassini, Co-Präsidentin der Integralen Politik, hat ein einfaches Konzept entwickelt, das hierfür sehr hilfreich ist. Im Rahmen von miteinander unterwegs – vier Frauen machen sich stark für ein neues Miteinander – haben wir unsere Bildungsangebote für eine enkeltaugliche Zukunft nach diesem Konzept strukturiert: „ich mit mir“, „wir miteinander“, „ich/wir im Bezug zur Welt“.
Zum dritten Durchbruch: Sehr spannend ist es, dem „evolutionärer Sinn“ auf die Spur zu kommen, dem Sinn von „momo&ronja“ zu lauschen. Wie will er sich ausdrücken? Laloux schlägt in seinem Buch eine einfache Übung dazu vor: in einer Team-Besprechung wird ein Stuhl leer gelassen, er steht für die Organisation. Die Mitarbeitenden können sich auf diesen Stuhl setzen und im Namen der Organisation sprechen. Als systemische Aufstellerin ist mir diese Methode vertraut. Wir haben also entschieden, diese Übung auszuprobieren, und ich bin zum ersten Mal tief in die Rolle dieses Wesens, momo&ronja, eingetaucht. Was ich erlebte, hatte eine enorme Kraft: Kaum auf den Stuhl gesetzt, fand ich mich auf dem Grund des Ozeans wieder. Mit Hilfe eines Walfisches konnte ich als momo&ronja an die Wasseroberfläche aufsteigen und ein erstes Mal die Welt da draussen schmecken. Und nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, war mir klar: Der evolutionäre Sinn von momo&ronja ist es, Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Dieser Sinn möchte, dass in all unseren Handlungen die Tiefe des Ozeans und die Weite des Universum mitschwingt. Durch die Aufstellung hat dieser Sinn meinen ganzen Körper erfasst. Wow. Diese Übung haben wir sicher nicht zum letzten Mal gemacht!
Quelle: Frederic Laloux, illustriert von Etienne Apart: Reinventing Organizations. Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit; Vahlen 2017
Jeannine Brutschin hat 2017 gemeinsam mit Kim Jana Degen die Organisation momo&ronja gegründet. „Als soziale Unternehmerinnen engagieren wir uns für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Zudem können wir mit momo&ronja unsere Erfahrung einer tiefen Verbundenheit mit der Natur in ganz konkreten Angeboten und Projekten zum Ausdruck bringen.“